Die Kriminalisierung der Entsorgung
Ein Bericht aus Brüssel und dem vermüllten Stadtleben: Wie Überwachung und harte Strafen uns vom Systemversagen ablenken.
Die folgende Reportage über das Brüsseler Müllproblem und seine strukturellen Ursachen habe ich für das linke Medienprojekt Unter Palmen verfasst und als Radiobeitrag eingesprochen. Dieser wurde am 8. Mai im österreichischen Radio ORANGE 94.0 gesendet und kann unter folgendem Link (ab 40:30) nachgehört werden: https://cba.media/709021
»Bienvenue à Bruxelles«
Schon auf dem Weg vom Bahnhof hin zu meiner ersten Unterkunft ekelt mich seine Allgegenwärtigkeit an: Müll ist in Brüssel überall. Er liegt auf dem Bürgersteig vor Hauseingängen und er liegt am Straßenrand. Manchmal in Tüten, manchmal lose und gelegentlich stapelt er sich auch in skurril anmutenden Bergen auf überfüllten Mülleimern.
Mein Uber-Fahrer erzählt mir, dass die zu gut verdienenden EU-Beamten die Mieten in die Höhe treiben würden – die Wohnungsnot ist für die allermeisten Menschen in Brüssel spürbar. Gleichzeitig platzt die Stadt förmlich vor lauter Abfall: Der Müll nimmt sich den Raum, der ihm nicht gegeben wird.
In meinem neuen Zuhause angekommen, nehme ich Notiz von der nichtvorhandenen Größe des Zimmers. Die gesamte Küche besteht aus einer Camping-Herdplatte und einer Mini-Bar. Es wirkt so, als hätte man nicht nur die Anzahl der Quadratmeter reduziert, sondern auch die Möbel gleich mit geschrumpft. Das Bad teile ich mir mit anderen Bewohnern des Hauses – also alles wie immer.
Ich verschwende nicht zu viel Zeit damit, mich über den Brüsseler Wohnungsmarkt aufzuregen. Stattdessen richte ich mich ein, starte in den neuen Job. Der fehlende Platz stört anfangs nicht zu sehr: Auch, wenn ich für mein Leben gerne durch Bioläden schlendere und meine Nachmittage am liebsten in der Küche verbringe: Zum ausführlichen Kochen würde sowieso kaum Zeit bleiben – ich bestelle also fast täglich.
Zuerst schleichend, dann ganz plötzlich stehe ich jedoch vor einem Problem: Die Mülltüten, in denen ich – fein säuberlich getrennt versteht sich – alle Verpackungen, benutztes Plastikbesteck, übergebliebene Essensreste und die Pizzakartons sammle, platzen aus allen Nähten. Und als ich dann noch die Abholung verpasse, weil ich bis spät abends arbeiten muss, beginnt ein richtiggehender Kampf gegen den Müll.
Weniger Müll zu verursachen ist nicht leicht, denn ich habe partout keine Zeit, um selbst zu kochen. Und auf viele Hygieneartikel will ich einfach nicht verzichten. Die nächste Abholung findet jedoch erst wieder in einer Woche statt – und ob ich zu dem Zeitpunkt in der Wohnung sein kann, ist noch völlig unklar. Früher rauslegen möchte ich den Müll aber auch nicht – auf ein Bußgeld der Stadt und eine Verwarnung der Hausverwaltung kann ich getrost verzichten.
Bei einem Spaziergang durch mein Wohnviertel stoße ich auf eine offensichtlich nicht angemeldete Mülldeponie und ich habe plötzlich den Eindruck, mit meinem Problem nicht gänzlich alleine zu sein. Ich denke darüber nach – und widerstehe schließlich doch dem Drang, meinen Abfall still und heimlich dazuzustellen. Am Ende ist es mein entleerter Kleiderschrank, der bis zum nächsten Abholtermin für die vollgepackten Tüten herhalten muss. Es wäre auch anders gegangen, aber ich bin nicht bereit, dem Müll auch nur einen einzigen Quadratmeter meiner eh schon viel zu kleinen Wohnfläche zu opfern.
Nach wenigen Wochen ziehe ich um. Ich passe meine Arbeitszeiten an den Müllplan an und sprinte mehr als nur einmal durch die halbe Stadt, um es noch pünktlich bis zur Abholung wieder nach Hause zu schaffen. Aber ich lerne, damit umzugehen. Und ich realisiere, dass ich mit meiner Frustration nicht alleine bin.
»Le système d'élimination des déchets«
Wer in Brüssel lebt, lernt, sich mit dem Müll zu arrangieren. Das bedeutet, ihn in der Öffentlichkeit so weit wie möglich auszublenden und den eigenen Alltag um die städtischen Abholungszeiten herum zu planen. Es bedeutet, in den Außenbereichen von Bars zu sitzen, vor denen sich der Müll stapelt und es bedeutet, große Bögen um die versifften, wahllos vor Türen abgestellten Matratzen zu machen.
Dass Brüssel ein Problem mit seiner Vermüllung hat, ist keine neue Erkenntnis – im Gegenteil. In den sozialen Medien wurden am Straßenrand liegende Mülltüten längst zum Meme erklärt. Und dass – in Anführungszeichen – “die Politik” sich dem Ganzen endlich mal annehmen sollte, taugt wahrscheinlich zur Stammtischparole.
Dabei könnte man argumentieren, dass es doch so einfach sei: Der Müll wird von den Einwohnern in verschiedenfarbigen Tüten gesammelt und dann zu festen Zeiten vor die Haustür gestellt. Wenn alle sich an die vorgegebenen Zeiten halten und korrekt sortieren, steht der Müll nie länger als ein paar Stunden rum, bevor die städtische Müllentsorgung ihn einsammelt und sich um den Rest kümmert – simpler geht’s ja wohl kaum. Ist das Problem also doch nur auf die Faulheit von ein paar unsolidarischen Mitmenschen zurückzuführen? Ich glaube, es ist komplizierter: Das Brüsseler Abfallentsorgungssystem hat nämlich eindeutige systematische Schwächen.
Vermutlich am auffälligsten ist das flächendeckende Fehlen von Mülltonnen. 2023 gab der zuständige Minister an, dass insgesamt nur 30 Prozent aller Einwohner ihren Abfall in Tonnen recyclen würden. Überhaupt kommen feste Tonnen eher in größeren Wohnanlagen zum Einsatz – wenn man ausnahmsweise mal trotzdem an einer privaten Tonne vorbei läuft, sind diese meist angekettet und mit einem festen Schloss versehen. Das Ablegen von Tüten ist stattdessen der Standard, was jedoch auch einige Probleme mit sich bringt: Sobald es mal nicht zur Abholung kommt, werden schnell Tiere angelockt – und ein Unwetter reicht, um den Inhalt in der gesamten Nachbarschaft zu verteilen.
Eine vor zwei Jahren umgesetzte Reform des Abfallentsorgungssystems hat zudem eine entscheidende Neuerung eingeführt: Statt im Voraus über den ungefähren Zeitpunkt der Abholung zu informieren, wird mittlerweile ein exakter Zeitraum festgelegt, in dem der Müll vor der Haustür abgestellt werden darf – gerade mal zwei bis vier Stunden pro Woche. Ein liberaler Kommunalpolitiker kommentierte damals, man müsse nun Student, arbeitslos oder im Ruhestand sein, um weiterhin seinen Müll rausbringen zu dürfen. Und er hat nicht ganz Unrecht: Wer zu diesem Zeitpunkt einer Lohnarbeit nachgehen, seine Kinder versorgen oder sich ehrenamtlich engagieren möchte, hat scheinbar Pech gehabt. Dass die dazugehörigen Flyer, die über die Reform informieren sollten, ausschließlich in niederländisch und französisch bereitgestellt wurden, machte in einer internationalen Stadt wie Brüssel das Chaos perfekt.
»Signaler un dépôt clandestin!«
Die Probleme, vor denen die Stadtverwaltung steht, sind vielfältig. Und zu glauben, dass sich die Verunreinigung einer gesamten Großstadt mit dem Kauf von ein paar neuen Tonnen lösen ließe, wäre vermessen. So betont die Stadt beispielsweise zu Recht, dass die Nutzung von losen Tüten auch mitverantwortlich ist für die enorm hohe Recyclingquote. Und auch die Einrichtung von öffentlichen Müllcontainern hätte zur Folge, dass man die heute schon knappe Anzahl an Parkplätzen weiter reduzieren müsste. Viele Dilemmata sind nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Aber, auch wenn die Einsicht, dass es sich um ein systematisches Problem handelt, simpel sein mag – sie bleibt richtig. Das zu betonen ist nicht selbstverständlich, wie manche Reaktionen aus der Politik beweisen. Die Stadt setzt nämlich weniger auf eine systematische Verbesserung als auf eine Bestrafung der Einzelnen.
Grundsätzlich herrscht Einigkeit darin, dass man hart gegen das illegale Abladen von Müll vorgehen will. Aber bereits jetzt sind die Bußgelder sehr hoch. In der Vergangenheit durchkämmte die Polizei sogar ganze Straßen, um hunderte von privaten Mülltüten nach Hinweisen auf die dahinterstehenden Personen zu durchsuchen. Dazu kommt die Videoüberwachung von besonders stark betroffenen Stellen zum Einsatz, bei denen vermehrt auf sogenannte Smart Cameras gesetzt werden soll. Ich halte jeden dieser Ansätze für fehlgeleitet.
Wer trotz der Hindernisse alles tut, um seinen Müll ordnungsgemäß zu entsorgen, ist nachvollziehbarerweise wütend, wenn die Nachbarschaft und der Weg zur Arbeit weiterhin vollkommen vernachlässigt daherkommen. Die Schuld ist leicht bei denen gefunden, die sich scheinbar nicht dieselbe Mühe machen – und die Forderung nach mehr Überwachung ist schnell gemacht. Aber ich möchte eine andere Perspektive vorschlagen: Durch schmerzhafte Strafen und ein hohes Polizeiaufgebot werden nämlich genau die Menschen kriminalisiert, die ebenfalls unter demselben mangelhaften System zu leiden haben. Die Forderung nach einer erhöhten Strafverfolgung blendet diese systematische Ebene jedoch völlig aus und überträgt die Verantwortung wieder zurück auf Einzelpersonen. Noch dazu kreiert sie einen Vorwand für die Aushöhlung von Bürgerrechten.
Erst vor ein paar Monaten ereignete sich in Brüssel eine wirklich besonders absurde Anekdote: Die Stadt entschied, hunderte öffentliche Mülleimer wieder zu entfernen, da viele Menschen diese auch für ihren Hausmüll gebrauchten. Anstatt anzuerkennen, dass es auch abseits der geschaffenen Möglichkeiten einen erhöhten Bedarf zur Müllentsorgung gibt, beschnitt man die öffentliche Infrastruktur einfach noch weiter. Die Gefahr, dass die Verantwortung komplett auf den einzelnen Bürger abgeladen wird, ist daher keine rein abstrakte Überlegung. Scheinbar niemand stellte sich die Frage, wieso Personen denn überhaupt erst auf die Idee kommen, die dreckigen Windeln ihrer Kinder im Mülleimer auf der Straße zu entsorgen.
Ich glaube, einen Teil der Antwort zu kennen: Das Leben in Brüssel ist teuer, die Arbeit ist stressig und der Wohnraum ist sehr knapp. Und das mangelhafte Abfallentsorgungssystem verlagert die gesamte Mülllagerung und -trennung bis zur finalen Abholung in die privaten Räumlichkeiten. Dass Menschen nach Wegen suchen, um wenigstens nicht auch in ihrem allerletzten Rückzugsort noch den Müll vor der Nase haben zu müssen, ist vielleicht nicht die allerfeinste Art – aber es ist verständlich.
Das illegale Abladen von massenhaft privatem oder gar industriellem Müll ist natürlich trotzdem kein Kavaliersdelikt. Gerade Unternehmen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit nicht um eine fachgerechte Entsorgung kümmern, müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Aber wenn es um den Müll auf der Straße von Großstädten geht, sollte man die Schuld für ein systematisches Versagen niemals bei den einzelnen Bewohnern suchen. Selbst wenn man die gesamte Stadt rund um die Uhr videoüberwachen würde, würde es nicht einen einzigen leeren Joghurtbecher weniger geben.
In einer Gesellschaft, in der man unter der Lohnarbeit und zu wenig Wohnraum ächzt, zu hohe Mieten zahlt und kaum Zeit zum Kochen hat, ist es wichtig, sich die Schuld nicht gegenseitig in die Schuhe zu schieben. Viel effektiver ist es, sich politisch zu organisieren und gemeinsam die Stimme für eine würdevolle Daseinsvorsorge zu erheben – eine Kriminalisierung der Entsorgung steht dazu jedoch in einem klaren Widerspruch.
