Olaf Scholz bei Tilo Jung: Leider nur Live Action Role-Play
Der amtierende Bundeskanzler soll ein Interview geben, als sei er Repräsentant der gesamten Menschheit – und sein Gastgeber ein Alien.
Es ist nicht Angela Merkel geworden: Seit 2013 hat Tilo Jung immer wieder versucht, die Bundeskanzlerin zu einem Interview zu bewegen. Damals noch ausgestattet mit wackeligen GoPro-Kameras und wechselnden Drehorten, hat sich das Format seitdem stark gewandelt. Über zehn Jahre später gilt Jung nicht mehr als »enfant terrible« der Bundespressekonferenz. Er hat ein eigenes Produktionsstudio und lädt die Gäste zu sich in den Livestream ein. Mit der Zusage von Olaf Scholz ist nun auch erstmals der Kopf einer Bundesregierung bei ihm in der Show – ein Höhepunkt für das Format. Die gewählte Interviewtechnik verwundert jedoch.
Statt sich einem breiten Strauß an bundespolitischen Themen zu widmen, bittet Jung den amtierenden Bundeskanzler, ein Rollenspiel einzugehen: Scholz soll dieses Interview geben, als sei er ein Repräsentant der gesamten Menschheit und Tilo Jung ein auf die Erde blickender Alien. So absurd das Szenario auch klingen mag, so produktiv könnte es tatsächlich für ein kritisches Interview genutzt werden: Den Regierungschef auch für die politischen Konsequenzen in anderen Ländern verantwortlich zu machen, setzt einen universalistischen Grundtenor und könnte viele außenpolitische Widersprüche offenlegen. Eine grundsätzliche Kritik an der nationalstaatlichen Ordnung lässt sich wohl kaum verdaulicher gestalten.
Die Umsetzung will aber auf keiner dieser Ebenen so richtig fruchten. Schon Jahre zuvor hat Jung eine ähnliche Metapher gezeichnet, um dem Philosophen Noam Chomsky seine Erkenntnisse über das menschliche Zusammenleben zu entlocken. Wer aber glaubt, diesen Ansatz auf einen Regierungschef übertragen zu können, unterschätzt die hartnäckigen Zwänge, aus denen heraus politische Entscheidungsträger ihre wohlüberlegten Aussagen treffen: Zu routiniert spult Scholz seine Talking Points ab, zu schnell fällt Jung ihm wieder ins Wort, um an das eigentliche Szenario zu erinnern. Schnell machen sich Langeweile und auch ein wenig Fremdscham breit. Scholz ist nun mal kein Chomsky.
Erst hinten raus wird es nochmal spannend, als Jung vom Experiment ablässt und unbequeme Fragen zur deutschen Verantwortung für das Leid in Gaza stellt. Scholz wirkt für seine Verhältnisse merklich wütend, beginnt, sich mit beiden Händen an den Tischkanten festzuhalten, und wirft plötzlich seinem Gastgeber sogar vor, die Fragen seien »einer Großmachtfantasie entsprungen«. Ein hochinteressanter Moment, der jedoch keine zehn Minuten lang dauert und der letzte seiner Art ist. Man bleibt zurück mit dem Gefühl, dass hier eine große Chance verpasst wurde.
